Steigt Rauch auf,
ist das Mittagessen gesichert


Wie ein alter senegalesichscher Brauch den Ursprung für ein erfolgreiches Projekt bildet.

Liebe Leserin, lieber Leser

Ein erfolgreiches Projekt im Senegal hat seinen Ursprung in einem alten Brauch der Volksgruppe der Serer. Es basiert auf den Pfeilern Solidarität, Würde und Diskretion. Die getrocknete Hälfte des Flaschenkürbisses – die Kalebasse – ist Namensgeberin der Gruppen.

Früher war bei den Serern Brauch, dass die Weisen während der Knappheitsperiode, genannt Soudure, den Himmel über den Dörfern beobachteten. Stieg am Mittag über jedem Hof Rauch auf, war alles in Ordnung, denn in jedem Haushalt wurde das Mittagessen zubereitet.

Fehlte jedoch am Himmel eine Rauchsäule, berieten sich die Weisen und deponierten in der Nacht heimlich ein Säckchen Hirse vor der Tür. In Senegal gibt es viele solche Erzählungen, und die Werte, die sie verkörpern, sind ein Stück der Identität.

Lokale Lösungen sind nötig

Heute wird, im Gegensatz zu akuter oder chronischer Nahrungsmittelknappheit, die Soudure von der internationalen Nothilfe kaum beachtet. Solche Probleme müssen lokal gelöst werden, die internationale Nothilfe hat dafür keine Mittel, so der allgemeine Tenor. Doch die Menschen in Senegal leiden, denn die Knappheitsperiode fällt mitten in die Regenzeit. Dann, wenn auch Mücken- und somit Malariazeit ist. Fehlt das Geld für eine medizinische Behandlung, kann das besonders für Kleinkinder rasch tödlich enden. Die Soudure hat auch Einfluss auf die Schulbildung, denn Schulgebühren und mit ihnen der Kauf von Büchern, Heften und der Schuluniform fallen im Oktober an, kurz vor der Ernte. Haben die Kinder nicht alles beisammen, werden sie am ersten Schultag abgewiesen.

Durch den Klimawandel sind die Regenfälle, die die Ernte bestimmen, unberechenbar geworden. Das zwingt die Väter oft dazu, auf der Suche nach Arbeit in die Städte oder andere Gegenden abzuwandern. Zurück bleiben Frauen, ältere Menschen und kleine Kinder. Diese wiederum können kaum die Felder bewirtschaften und haben selten eigenes Einkommen. Hunger macht sich breit, die ganze Familie leidet, und sie sind auf das Wohlwollen anderer angewiesen. Das erschüttert das Selbstverständnis und ihre Würde.

Vorbild sind traditionelle Nothilfesysteme

Über die letzten Jahre haben die Menschen im Landesprogramm Senegal ihre eigene und einzigartige Lösung entwickelt: die Solidaritätskalebasse. Dazu liessen sie die Werte und Mechanismen der traditionellen Nothilfesysteme – wie das der Serer – wieder aufleben und überführten diese in einen Ansatz, der in die heutige Welt passt. Die zentralen Werte sind Solidarität, Würde und Diskretion. Dazu kommt, dass der Ansatz religiös verträglich mit dem Islam ist, alle Menschen miteinbezieht und eine gewisse Universalität enthält, so dass er auf verschiedene kulturelle und soziale Kontexte übertragbar ist.

Die Methode ist simpel: Bei den regelmässigen Gruppentreffen wird eine Kalebasse, eine getrocknete Kürbisschale, mit einem Tuch bedeckt und in die Mitte gestellt. Jede Person hält während des Treffens einmal ihre Hand unter das Tuch und lässt einige Münzen – so viel, wie sie gerade entbehren kann – in die Kalebasse fallen. Hat sie kein Geld, steckt sie trotzdem ihre Hand unter das Tuch. Falls sie befürchtet, dass jemand merkt, dass es nicht klimpert, darf auch ein Kiesel oder etwas anderes hineingeworfen werden. So wird die Würde aller gewahrt.

Das gesammelte Geld wird am Ende der Zusammenkunft vor allen Anwesenden gezählt, der Betrag in einem Heft notiert und von der gewählten Schatzmeisterin verwaltet. Durch das wachsende Vermögen können diskret Notkredite gesprochen werden, wenn es bei einer Familie nicht für Nahrungsmittel, Schulgebühren oder das Decken der Gesundheitskosten reicht. Diese Notkredite sind zinslos, was konform mit dem Islam ist und auch verhindert, dass der Schuldendruck auf die Familien wächst. Die Kredite werden zu 97 Prozent zurückbezahlt. Das Verantwortungsgefühl ist sehr gross, denn es ist ja gemeinsames Geld.

Fastenaktion finanziert ausschliesslich die Arbeit der Partnerorganisationen beim Aufbau und bei der Begleitung der Gruppen, die Beratung der lokalen Organisationen, die Ausbildungen und die Zusammenarbeit auf nationaler Ebene. Das Programm wird von den Mitgliedern der Kalebassen stetig weiterentwickelt. So wird sichergestellt, dass es «ihr eigenes» Programm bleibt.

Wegen der grossen Nachfrage wird viel Arbeit in die Vernetzung der einzelnen Gruppen investiert. Durch die Netzwerke können sie sich vermehrt gegenseitig unterstützen und Herausforderungen gemeinsam lösen. Dadurch werden bei den Partnerorganisationen Ressourcen frei, die sie in Gebieten einsetzen, in denen weitere Kalebassengruppen gegründet werden wollen.

Sozialer und ökonomischer Einfluss

Ein Teil des Geldes wird meist von Anfang an für Gruppeneinkäufe verwendet, denn Grosseinkäufe sind günstiger. Zudem sparen die Mitglieder auch Zeit: Denn es reicht, wenn eine Frau zum Markt geht, um Salz für alle zu kaufen. Sobald eine kleine Summe zusammengekommen ist, wird der gesamte Grundeinkauf über die Kalebasse abgewickelt. Öl, Zucker, Waschmittel, Seife, Getreide, Salz, Bouillon, für Feiertage auch Fleisch und Gemüse, sowie Schulhefte werden en gros gekauft und weiterverkauft. In einem nächsten Schritt stellen die Gruppenmitglieder auch selber Produkte her, verkaufen diese weiter, ein Teil der Erträge wird in der Kalebasse verwaltet, der andere Teil wird für Weiterbildungen und Materialkauf verwendet.

Das Vermögen wächst, zudem wird so ein Raum für ökonomisches gemeinschaftliches Lernen geschaffen. Bei allen Aktivitäten profitiert die Gruppe, aber auch jede einzelne Person. Das macht die Kalebassen auch für einkommensstärkere Familien attraktiv, die keine Nahrungsknappheit befürchten müssen. Denn auch sie schätzen die Zeitersparnis und den Zugang zu günstigeren Produkten. Das wiederum fördert die Durchmischung in den Gruppen.

Die Kalebassen haben zudem einen starken sozialen Einfluss. Die Frauen lernen Probleme selber zu lösen, so bekommen sie Selbstvertrauen, und das Vertrauen in die Gemeinschaft wächst. Die gemeinsamen Treffen und Diskussionen stärken die Frauen. Sie lernen vor anderen zu sprechen und können dadurch auch innerhalb ihrer Familien neue Rollen einnehmen.

Mittlerweile profitieren über eine halbe Million Menschen von den Kalebassen. 90 Prozent der ca. 50 000 Mitgliederfamilien werden von Frauen vertreten. Die sozialen Veränderungen sind sichtbar geworden: Bei den Lokalwahlen im Januar 2022 wurden über fünfzig Frauen aus den Kalebassen in die Lokalparlamente gewählt, und inzwischen interessiert sich sogar die nationale Politik für diesen Ansatz.

Dennoch steigt der Druck. Durch die Klimakrise stehen die Existenzen vieler Menschen, die sich mit der Kalebasse eine gewisse Widerstandskraft aufgebaut haben, auf dem Spiel. In den letzten Jahren hat sich der Anteil der Familien verdoppelt, die einen Nahrungsmittelkredit benötigten. Das wiederum verstärkt die Angst vor einer Hungersituation, die die Gruppen allein nicht bewältigen können. Und nach wie vor ist es nicht selbstverständlich, dass zur Mittagszeit über jedem Innenhof Rauch aufsteigt.

Zahlen und Fakten

Das deutlichste Warnzeichen für Hunger ist die Zunahme an Krediten für Nahrungsmittel bei den Kalebassen. War der Anteil der Bevölkerung, der einen solchen Kredit benötigte, in den Vorjahren relativ konstant, verdoppelte er sich in den Jahren 2020 und 2021 fast, von 7 auf 13 Prozent. Dies, obwohl die Kredite für Gesundheitskosten und Schulgebühren konstant blieben. Das zeigt, dass die Corona-Krise mehr die Ernährungssicherheit als die Gesundheit gefährdet. Die Kredite für Nahrungsmittel zeigen zudem, dass die Kosten für Ernährung im Haushaltsbudget unberechenbar geworden sind.

12 von 14 Regionen: Der Ansatz funktioniert in Senegal universell: bei den Fischereigemeinschaften an und vor der Küste, bei den Viehhirten im Sahel im Norden, bei den Reisbäuer:innen in der südlichen Casamance, in Stadtquartieren von Dakar und Thiès oder in den sehr ländlichen Gegend von Koungheul.

Über 13 000 Kredite 2021: 13 000 Familien in Notsituationen konnten sich über ihre Gemeinschaft selber helfen, ohne sich zu verschulden.

In der Corona-Krise hat sich gezeigt, welch wichtige Rolle die Kalebassen einnehmen. Sie haben über 500 000 Menschen eine Sicherheit gegeben, die der Staat nicht bieten konnte. Sie ermöglichten Zugang zu Hygieneprodukten wie Seifen und konnten Engpässe während der Lockdowns abfedern. Da die Nahrungsmittelpreise jedoch rasant steigen, nicht nur, aber auch wegen des Krieges in der Ukraine (Weizen ist das grösste Importprodukt Senegals), blicken die Menschen in Senegal sehr besorgt in die Zukunft.

Ein Drittel der Kalebassen erwirtschaftet inzwischen mehr Geld durch gemeinsame ökonomische Aktivitäten als durch die während der gemeinsamen Treffen gesammelten individuellen Beiträge.

Mit Ihrer Hilfe fördert Fastenaktion Solidaritätsgruppen. Herzlichen Dank!

Über Fastenaktion:

Fastenaktion (ehem. Fastenopfer) ist eine Schweizer Organisation der internationalen Zusammenarbeit. Wir setzen uns ein für benachteiligte Menschen im globalen Süden – für eine gerechtere Welt und die Überwindung von Hunger. Dabei stützen wir uns auf lokales Wissen und Entwickeln im Dialog mit unseren Partnerorganisationen wirksame Ansätze.

Im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe begleiten wir Gemeinschaften dabei, sich zu organisieren und ihre Grundrechte einzufordern.

Wir arbeiten mit Partnerorganisationen in 14 Ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika sowie mit Organisationen in der Schweiz zusammen.

Impressum

Herausgeber: Fastenaktion Schweiz, Luzern
Redaktion: Vreni Jean-Richard, Colette Kalt
Illustrationen: Skiss GmbH, Luzern
Bilder: Fastenaktion Bilddatenbank
Onlinegestaltung: Manolito Steffen